Hinüber : Erzählung

Grill, Evelyn, 1999
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Medienart Buch
ISBN 978-3-518-12097-2
Verfasser Grill, Evelyn Wikipedia
Systematik DE - Dt. Erzählende Dichtung
Schlagworte Tod, Sterben, Grill Evelyn, Hinüber
Verlag Suhrkamp
Ort Frankfurt a. M.
Jahr 1999
Umfang 107 S.
Altersbeschränkung keine
Auflage Erstausg., 1. Aufl.
Sprache deutsch
Verfasserangabe Evelyn Grill
Annotation Annäherung an fernes Sterben / Evelyn Grills Erzählung "Hinüber" Im Anfang war das telefonische Wort. Sie erfährt nämlich alles fernmündlich. Ihrem von Rückenschmerzen gepeinigten Bruder Willi seien die Zähne gezogen worden. Alle, oben und unten, und alle auf einmal, davon sei er nicht abzubringen gewesen. Seien die Zähne erst gezogen, sei der Mensch gesund. Von der erleichterten Mutter hört sie, jetzt werde alles wieder gut. Doch Pia, Willis Lebensgefährtin und Absolventin eines Seminars für positives Denken, schildert ihr die Spuren, die die Gewaltkur hinterlassen hat. Der Bruder, inzwischen weiß sie es, hat nur die Zähne verloren, nicht aber die schlimmen Schmerzen im Kreuz. Ein Anfang, so schlicht wie dicht. Es ist die jüngste Erzählung von Evelyn Grill, die so beginnt. Weder Zeit noch Worte verliert die Autorin im Auftakt zu ihrer Geschichte vom gescheiterten Geleit Hinüber. Unverzüglich skizziert sie mit wenigen, kräftigen Strichen sowohl die unvorhersehbare Begebenheit, die dem erzählten Geschehen zugrunde liegt, als auch den Kreis der Figuren, die von dem beunruhigenden Ereignis betroffen sind. Bereits der allererste Satz ist wegweisend. »Ich erfahre alles über das Telefon«, sagt die Ich-Erzählerin da, scheinbar beiläufig. Und deutet gleich zu Beginn an, was Hinüber am Ende in mehr als einer Hinsicht ist: die Geschichte einer unüberbrückten Entfernung. Die Telefonberichte über den Zustand des 45jährigen Willi Zirnsack verheißen nichts Gutes. Widerstrebend sucht die um anderthalb Jahre ältere Schwester, aus deren Blickwinkel Hinüber erzählt wird, das direkte Gespräch mit der Familie. Weit ist der Weg, eigentlich zu weit. Die deutsch-österreichische Grenze muß sie dafür überwinden und eine Entfernung von 700 Kilometern. Vor allem aber muß sie sich selbst überwinden, denn die Entfernung ist nicht zuletzt eine innere: der Puffer, den sie mit Bedacht zwischen ihr früheres und ihr jetziges Leben gelegt hat. Sie überwindet sich also und fährt von ihrem süddeutschen Domizil nach Oberösterreich, wo die Familie in eben jenem Dorf lebt, in dem sie selbst einst geboren wurde. So lang der Weg, so kurz der Besuch. Die Worte für Bruder und Mutter bleiben belanglos. Dabei gibt es am Krankenbett einen Augenblick, in dem der Bruder eine leise Bereitschaft zu ernsthaftem Sprechen signalisiert. Doch die Schwester ignoriert das Signal. Sie erstickt diese eine, einzige Möglichkeit eines wirklichen Gesprächs mit einer abwiegelnden Phrase. Und sucht das Weite. Darüber, daß der Bruder todkrank ist, macht sie sich keine Illusionen. Doch noch ist die Krankheit namenlos, »der Bruder weit weg, der Tod eine Schimäre«. Knapp und karg sind die Sätze von Evelyn Grill, oft lakonisch und immer nüchtern. Gebündelt zu sechzehn kurzen Kapiteln, fügen sie sich zu einer Erzählung, die, obwohl mit den letzten irdischen Dingen befaßt, frei ist von Sentimentalität, frei von Pathos und Zynismus. Das liegt auch an der Alltagssprache, in der, leicht dialektal gefärbt, erzählt wird. Moduliert wird der alltagssprachliche Ton durch den beständigen Wechsel der Erzählperspektive. Immer wieder springt die Erzählerin zwischen (unmarkierter) direkter Rede, indirekter Rede, erzählendem Bericht und innerem Monolog hin und her, mitunter gar in ein und demselben Satz. Das verlangt Aufmerksamkeit beim Lesen, ist aber durchaus reizvoll. Sprachlich indes hätte man dem Text an manchen Stellen ein etwas genaueres Lektorat gewünscht, gerade im Hinblick auf die beim perspektivisch alternierenden Erzählen entscheidenden Tempora. Erst nach der Stippvisite am Krankenbett bemüht sich die Schwester, dem ihr längst entfremdeten Bruder näherzukommen. Sie tut es auf ihre Weise, undialogisch und distanziert. Nur so kann sie sowohl dem realen Sterben des Bruders als auch der eigenen Todesangst entfliehen. Was geschieht, ist paradox: eine Annäherung durch Flucht. Zu beobachten sind mehrere Fluchtbewegungen auf unterschiedlichen Ebenen. Der offensichtlichste Fluchtversuch besteht darin, einen weiteren Besuch beim Bruder immer weiter hinauszuschieben. Auch als der tödliche Befund vorliegt ? das Stichwort Bauchspeicheldrüse hatte ihn angekündigt ? und dem Krebskranken nur noch mit Morphium zu helfen ist, läßt die Schwester Wochen verstreichen, bis sie den Sterbenden aufsucht. In all den anderen Reisen, die sie derweil nur zu gern antritt, läßt sich eine weitere Fluchtbewegung erkennen. Es sind Reisen, die sie im Schlepptau ihres Lebensgefährten unternimmt, eines gewissen M., der fortwährend auf den Spuren berühmter Dichter wandelt ? hier, als Rätsel verpackt, auf denen Rilkes und Georges ?, ansonsten aber eigentümlich blaß bleibt (wie überhaupt der geschilderte Alltag in Süddeutschland kein rechtes Bild ergeben will). Aber da ist schließlich noch der Fluchtweg in die Erinnerung. Und in diesem monologischen Beschwören gemeinsamer Kindheitserlebnisse, das nach dem frommen Wunsch der Erzählerin dereinst in ein würdiges Zwiegespräch mit dem Bruder münden soll, gelingen der Autorin Szenen von großer Eindringlichkeit. Hinüber, das stellt sich in einem dieser rückblickenden Selbstgespräche mit dem Bruder heraus, hinüber war sie selbst beinahe einmal. Doch der Bruder verhinderte den Suizid der Siebzehnjährigen. Sie verdankt ihm mancherlei, Gefühle der Eifersucht und der Sorge, des Neids und des Mitleids, der Minderwertigkeit und der Überlegenheit, und sie verdankt ihm ihr Leben. Daß seines nun so bald zu Ende gehen soll, läßt ihr keine Ruhe. Denn was, »wenn er meine Hand nähme und forderte: Hilf mir hinüber?« Die Palette an zurechtgelegten Antworten reicht von »Bruder, zeig du mir, wie man stirbt« über »Sterben, das müssen wir alle« bis hin zu einem »Sterbeprogramm« mit »Kerzen und Stille und Kontemplation«. Doch als sie sich schließlich ans Sterbelager wagt, will der Bruder weder ihre Kindheitserinnerungen hören noch ihr Sterbevorbild sein. Ihr bleibt nichts übrig, als in die frommen Lügen der Familie einzustimmen. Eindrücklich führt uns Evelyn Grill das Trugbild eines Sterbegeleits vor Augen, das doppelt scheitert: an einer unüberbrückten Entfernung und an einem versagten Sterbewort. *LuK* Susanna Engelmann

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